Datum: 31. Juli 2018
Gericht: VG Köln
Spruchkörper: 7. Kammer
Entscheidungart: Urteil
Aktenzeichen: 7 K 5603/15
ECLI: ECLI:DE:VGK:2018:0731.7K5603.15.00
Verwaltungsgericht Köln, 7 K 5603/15
Datum: 31.07.2018
Gericht: Verwaltungsgericht Köln
Spruchkörper: 7. Kammer
Entscheidungsart: Urteil
Aktenzeichen: 7 K 5603/15
ECLI: ECLI:DE:VGK:2018:0731.7K5603.15.00
Tenor:
Der Bescheid des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte vom 27.02.2015 (Geschäftszeichen: 00.00-0000-X-0000/00) in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.08.2015 (Geschäftszeichen: X-00000) wird aufgehoben.
Die Kosten des Verfahrens trägt die Beklagte.
Die Entscheidung ist hinsichtlich der Kosten gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des Vollstreckungsbetrages vorläufig vollstreckbar.
1 Tatbestand
2 Die Klägerin wendet sich mit der Klage gegen die Klassifizierung des von ihr in den Verkehr gebrachten Präparates „D. I. “ als Medizinprodukt der Klasse III durch das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte – BfArM.
3 Das Produkt „D. I. “ ist eine Suspension zum Einnehmen bei übermäßiger Gasbildung und Gasansammlung im Magen-Darm-Bereich wie Blähungen, Völlegefühl und Aufstoßen. Außerdem wird es zur Vorbereitung diagnostischer Untersuchungen und Behandlung von allgemeinen Verdauungsstörungen angewendet.
4 Es enthält als Wirkstoff eine Polysiloxan-Emulsion (Simeticon), die die Oberflächenspannung der im Nahrungsbrei befindlichen Gasblasen verringert, sodass diese zerfallen, und bewirkt hierdurch eine Linderung bei Blähungen. Der Stoff selbst wird nicht durch die Darmwand resorbiert und unverändert wieder ausgeschieden. Die ausschließlich physikalische Wirkung von Simeticon wird vom BfArM nicht bestritten.
5 Der Suspension sind außerdem als Aromastoffe drei Pflanzenstoffe beigefügt. 100 g der Lösung enthalten nach der Produktbeschreibung
6 – 4,4800 g natürliches Kümmelaroma
7 – 0,2240 g natürliches Pfefferminzaroma
8 – 4,4800 g natürliches Kamillenaroma.
9 Gemäß der Konformitätserklärung der Klägerin vom 29.08.2013 wird das Mittel als Medizinprodukte der Klasse I eingestuft und wurde als solches vertrieben.
10 Mit Schreiben vom 06.12.2013 stellte die Landesüberwachungsbehörde des Freistaates Thüringen beim BfArM einen Antrag auf Feststellung der Klassifizierungsklasse des Medizinproduktes nach § 13 Abs. 3 MPG.
11 Nach Anhörung der Klägerin stellte das BfArM mit Bescheid vom 27.02.2015 fest, dass es sich bei dem Produkt „D. I. “ nach der Klassifizierungsregel 13 des Anhangs IX der Richtlinie 93/42/EG um ein Medizinprodukt der Klasse III handele. Nach der Regel 13 würden alle Produkte, zu deren Bestandteilen ein Stoff gehöre, der bei gesonderter Verwendung als Arzneimittel im Sinne des Artikel 1 der Richtlinie 2001/83/EG angesehen werden könne und der ergänzend zur Wirkung der Produkte auf den menschlichen Körper wirken könne, der Klasse III zugeordnet.
12 Diese Voraussetzungen seien hier im Hinblick auf die im Produkt verwendeten Aromastoffe aus Kamille, Kümmel und Pfefferminze erfüllt. Bereits mit der Bezeichnung des Mittels als „D. “ seien phytotherapeutische Wirkungen assoziiert. Ein D. sei ein pflanzliches Mittel gegen Blähungen. In der Bewerbung und auf der äußeren Verpackung würden „natürliche Auszüge aus Kamille, Kümmel und Pfefferminze“ direkt mit dem Hauptwirkstoff benannt und legten die Vermutung nahe, dass auch diese pflanzlichen Bestandteile einen Beitrag zur blähungstreibenden Wirkung leisteten. Es sei wissenschaftlich nachgewiesen, dass Kümmel, Kamille und Pfefferminze spasmolytische Wirkungen hätten, die zur Linderung bei Blähungen führten. Daher seien entsprechende Kombinationen aus pflanzlichen Zubereitungen auch als Arzneimittel zugelassen und in einer Monographie des österreichischen Arzneibuchs aufgeführt.
13 Eine Kombination aus Kamillenblüten, Pfefferminzblättern und Kümmel stelle daher ein Arzneimittel im Sinne des Art. 1 der Richtlinie 2001/83/EG dar und könne ergänzend auf den menschlichen Körper wirken.
14 Am 01.04.2015 legte die Klägerin Widerspruch gegen den Bescheid ein. In der Begründung führte sie aus, die Regel 13 finde auf das Präparat der Klägerin keine Anwendung, weil die verwendeten Pflanzenaromen keine Wirkung auf den menschlichen Körper entfalten könnten. Denn sie seien nicht in einer pharmakologisch wirksamen Konzentration darin enthalten. Sie seien lediglich dazu bestimmt, den Geschmack zu verbessern und dürften auch in Lebensmitteln und Kosmetika eingesetzt werden.
15 Gemäß MEDDEV Leitlinie 2.4/1 zu Regel 13 würden Produkte nicht erfasst, „die einen Stoff enthalten, der unter anderen Umständen als Arzneimittel betrachtet werden könne, der aber in das Medizinprodukt nur eingearbeitet worden sei, um bestimmte Eigenschaften des Medizinproduktes zu erreichen, ohne dass ein Effekt auf den menschlichen Körper zu erwarten sei. Das gelte beispielsweise für ätherische Öle, welche in niedriger Konzentration als Duftstoffe genutzt würden (Arbeitshilfe: Einstufung und Klassifizierung von Medizinprodukten der AGMP-Projektgruppe „Abgrenzungs- und Klassifikationsfragen“ vom 29.06.2007).
16 Laut Herstellerspezifikation enthielten die Aromen maximal 5 % des jeweiligen ätherischen Öls. Die Öle seien daher in einer so geringen Menge enthalten, dass diese unter der Nachweisgrenze liege und eine Ausweisung als Allergen nicht erforderlich sei.
17 Die therapeutische Tagesdosis von Kümmelöl, Pfefferminzöl und Kamillenöl könne der Kommentierung zu den entsprechenden Monographien des Europäischen Arzneibuchs (Ph.Eur.) entnommen werden. Hieran gemessen, würden mit dem Produkt lediglich 1,9 % der wirksamen Tagesdosis Kümmelöl, 0,67 % einer wirksamen Tagesdosis Pfefferminzöl und 4,5 % einer wirksamen Tagesdosis Kamillenöl eingenommen.
18 Durch Widerspruchsbescheid vom 21.08.2015 wurde der Widerspruch zurückgewiesen und die Anwendung der Regel 13 zur Klassifizierung bestätigt. In der Begründung wurde ausgeführt, zwar würden die Mengen an ätherischen Ölen entsprechend den Berechnungen der Klägerin deutlich unterhalb der Dosierungsempfehlungen der Arzneibuchmonographien liegen. Eine ergänzende Wirkung sei jedoch auch in diesen geringen Konzentrationen nicht auszuschließen und auch von der Klägerin beabsichtigt, indem sie mit diesen Inhaltsstoffen werbe.
19 Gleichzeitig werde darauf hingewiesen, dass unter derselben Bezeichnung „D. I. “ eine Zubereitung aus Kamillenfluidextrakt, Kümmeltinktur und Pfefferminzblätterfluidextrakt bis 17.11.2009 als Arzneimittel im Verkehr gewesen sei. Eine Verwendung der carminativ wirkenden Pflanzenauszüge lediglich als Aroma erscheine daher zweifelhaft. Es sei vom Hersteller zu belegen, dass die pflanzlichen Inhaltsstoffe keine pharmakologische Wirkung ausübten, auch keine ergänzende Wirkung.
20 Gegen den am 24.08.2015 zugestellten Widerspruchsbescheid erhob die Klägerin am 23.09.2015 Klage, mit der sie weiterhin die Aufhebung des Feststellungsbescheides des BfArM begehrt.
21 Zur Begründung der Klage wiederholt sie zunächst den Vortrag aus dem Widerspruchsverfahren.
22 Ergänzend wird vorgetragen, bei der Anwendung der Klassifizierungsregeln sei zu berücksichtigen, dass sie einem unterschiedlichen Risiko im Hinblick auf die Verletzlichkeit des Körpers Rechnung tragen sollten. Mit dem Grad des Risikos solle der Grad der Überprüfung im Rahmen des Konformitätsbewertungsverfahrens steigen. Die Regel 13 sei daher nur anwendbar, wenn dem Stoffgemisch ein Stoff im Sinne eines Funktionsarzneimittels beigefügt worden sei. Nur wenn aufgrund der Art und Dosierung des Funktionsarzneimittels mit besonderen Risiken für den Anwender zu rechnen sei, komme eine Anwendung der Regel 13 in Betracht. Es fehle jedoch an der medizinischen Zweckbestimmung und der Eignung zur Erzielung arzneilicher Wirkungen. Bei den zugefügten Aromen handele es sich lediglich um Hilfsstoffe zur Geschmackverbesserung, nicht um Wirkstoffe. Eine wesentliche Beeinflussung der Funktionsbedingungen des menschlichen Körpers im Sinne der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zur Auslegung des Begriffs des Funktionsarzneimittels liege nicht vor.
23 Da es sich bei den zugefügten Aromen um Stoffe handele, die primär als Lebensmittel verwendet würden, könne die Dosierung für die Beurteilung nicht unerheblich sein. Es handele sich um Hilfsstoffe im Sinne der EU-Aroma Verordnung Nr. 1334/2008, welche zur Verwendung in Lebensmitteln zugelassen seien. Eine über die Geschmacksverbesserung hinausgehende arzneiliche Wirkung sei nicht zu erwarten. Denn diese liege weit unterhalb therapeutischer Dosen.
24 Auch aus der Stoffliste des Bundes und der Bundesländer, Kategorie „Pflanzen und Pflanzenteile“ (Anlage K35, Beiakte 6) ergebe sich, dass bestimmte Pflanzenstoffe sowohl Verwendung als Lebensmittel als auch als Arzneimittel fänden. Hier seien auch Kamille, Pfefferminze und Kümmel erwähnt (S. 92, 93, 36) Die Einordnung sei von der Dosierung abhängig.
25 In Abweichung zum Vortrag im Widerspruchsverfahren wurden im Verlauf des Klageverfahrens mehrere Berechnungen vorgelegt, die den Anteil der streitgegenständlichen Aromastoffe an einer therapeutischen Tagesdosis ermitteln und zu verschiedenen Ergebnissen kommen. Der Anteil der ätherischen Öle an den Aromastoffen wurde nunmehr aufgrund einer Spezifikation des Herstellers mit 4 % Kümmelöl, 29 % Pfefferminzöl und 2 % Kamillenöl angegeben. Die therapeutische Tagesdosis oder Einzeldosis wurde aus den Dosierungsangaben der Pflanzenmonographien der Kommission E aus den Jahren 1984, 1986 und 1990 entnommen. Eine synergistische Wirkung der drei Pflanzenstoffe wurde bestritten.
26 Die Konzentrationen der ätherischen Öle im Produkt lägen mit 0,172 % Kümmel- und Pfefferminzöl und 0,064 % Kamillenöl auch unterhalb der in der Schweiz für Medizinprodukte zugelassenen Menge von 3 % (Bundesamt für Gesundheit der Schweiz; Merkblatt : Einstufung ätherische Öle – Abgrenzungskriterien, S. 2, Anlage K 16).
27 Die Behauptung der Beklagten, dass auch bei dieser geringen Konzentration eine pharmakologische Wirkung nicht auszuschließen sei, werde bestritten. Die Beweislast dafür, dass die enthaltenen ätherischen Öle im vorliegenden Präparat eine Wirkung auf den menschlichen Körper haben könnten, trage die Beklagte, da sie sich auf die Klassifizierungsregel 13 berufe. Es sei bereits in der Rechtsprechung des EuGH geklärt, dass im Fall der Abgrenzung von Arzneimitteln zu Medizinprodukten oder Nahrungsergänzungsmitteln die Beweislast für das Vorliegen der Arzneimitteleigenschaft bei der Beklagten liege. Entsprechendes gelte für die Abgrenzung der Klassifizierungsregeln nach dem MPG. Diese Frage habe der EuGH allerdings ausdrücklich noch nicht entschieden, weswegen eine Vorlage des Rechtsstreits an den EuGH wegen grundsätzlicher Bedeutung nach Art. 267 AEUV angeregt werde.
28 Die Beklagte nehme eine pharmakologische Wirkung auch nicht ausdrücklich an, sondern argumentiere ähnlich der Zweifelsfallregelung bei Arzneimitteln, dass im Zweifel von einer Einstufung in Klasse III auszugehen sei, weil der Eindruck entstehen könne, dass die Geschmacksstoffe pharmakologische Wirkungen hätten und die Klägerin diesen Eindruck auch erwecken wolle. Hierfür fehle es jedoch an einer rechtlichen Grundlage.
29 Die Zweifelsfallregelung des § 2 Abs. 3a AMG betreffe allein die Frage der Abgrenzung zwischen Arzneimitteln und Medizinprodukten und nicht die Klassifizierung von Medizinprodukten. Sie sei daher für den vorliegenden Streitfall nicht entscheidungserheblich, in dem die Einordnung als Medizinprodukt unstrittig sei. Im Übrigen gelte die Zweifelsfallregelung nur im Hinblick auf die bestimmungsgemäße Hauptwirkung des Produkts. Im vorliegenden Fall seien ausschließlich die Regelungen des Medizinprodukterechts anwendbar, die für eine Abgrenzung von Medizinprodukten der Klasse I und der Klasse III keine Zweifelsfallregelung enthielten. Folglich seien die allgemeinen Beweislastregeln anwendbar. Für eine analoge Anwendung der Zweifelsfallregelung des § 2 Abs. 3a des Arzneimittelgesetzes sei kein Raum.
30 Allein aus der Produktaufmachung könne nicht geschlossen werden, dass die Pflanzenauszüge im vorliegenden Produkt eine ergänzende Wirkung auf den menschlichen Körper hätten. Im Übrigen werde in den Informationstexten des Produkts lediglich die Zusammensetzung des Mittels genannt. Als einziger Wirkstoff sei Simeticon angegeben.
31 Auch der Umstand, dass bis 2009 ein gleichnamiges Produkt der Klägerin als Arzneimittel im Verkehr gewesen sei, lasse keine Rückschlüsse auf die Wirkungen des vorliegenden Präparates zu, da es sich um ein völlig anderes Produkt mit einer ganz anderen Zusammensetzung gehandelt habe.
32 Auf Anregung des Gerichts hat die Klägerin in der mündlichen Verhandlung eine neue Berechnung des Anteils der im streitgegenständlichen Produkt enthaltenen ätherischen Öle an einer therapeutisch wirksamen Einzeldosis vorgenommen, wobei sie die Dosierungsangaben den entsprechenden aktuellen Pflanzenmonographien des Ausschusses für pflanzliche Arzneimittel (HMPC) der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) entnommen hat.
33 Danach werden mit einer Einzeldosis von D. I. 14,8 % einer therapeutisch wirksamen Menge Kamillenöl, 3,58 % einer therapeutisch wirksamen Menge Kümmelöl und 3,6 % einer therapeutisch wirksamen Menge Pfefferminzöl zugeführt. Die in der mündlichen Verhandlung anwesende Mitarbeiterin der zuständigen Fachabteilung der Beklagten hat keine Einwände gegen die zugrunde liegende Berechnung erhoben.
34 Die Klägerin beantragt,
35 den Bescheid des BfArM vom 27.02.2015 (Geschäftszeichen: 00.00-0000-X-0000/00) in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.08.2015 (Geschäftszeichen: X-00000) aufzuheben.
36 Die Beklagte beantragt,
37 die Klage abzuweisen.
38 Sie beruft sich auf die Begründung der angefochtenen Bescheide. Nachdem die Klägerin den Anteil der ätherischen Öle spezifiziert und eine Neuberechnung der Gehalte im streitgegenständlichen Produkt und deren Bezug zu einer therapeutisch wirksamen Dosis anhand der Monographien der Kommission E vorgelegt hatte, hatte die Beklagte zunächst erklärt, die Berechnung der Klägerin sei unzutreffend. Es seien nicht die veralteten Monographien der Kommission E anzuwenden, sondern die Monographien des Pflanzenausschusses der EMA (HMPC), weil diese den aktuellen Stand der Wissenschaft widerspiegelten. Auf dieser Grundlage ergebe sich, dass mit einer Tagesdosierung des streitgegenständlichen Produkts 44,4 % Kamillenöl, 10,8 % Pfefferminzöl und 3,6 % Kümmelöl der therapeutischen Dosis eingenommen würden. Diese Menge sei nicht zu gering, um eine unterstützende Wirkung zu entfalten. Ferner sei mit einem synergetischen Effekt der drei enthaltenen Öle zu rechnen. Von einer nennenswerten Beeinflussung der Funktionsbedingungen sei auszugehen.
39 An diesem Vortrag hat die Prozessbevollmächtigte der Beklagten nach Vorlage der Neuberechnung der Klägerin in der mündlichen Verhandlung nicht weiter festgehalten. Sie ist jedoch nach wie vor der Auffassung, dass eine pharmakologische Wirkung der drei Pflanzenstoffe nicht auszuschließen sei.
40 Daher sei die Klägerin beweispflichtig für die Tatsache, dass das Produkt keine ergänzende Wirkung auf den menschlichen Körper im Sinne der Klassifizierungsregel 13 habe. Dies ergebe sich aus einer entsprechenden Anwendung der Regeln für die Abgrenzung von Arzneimitteln und Medizinprodukten.
41 Nach der Rechtsprechung des VG Köln (Urteil vom 14.04.2015 – 7 K 4332/13 –) handele es sich bei Medizinprodukten in der Regel um Präsentationsarzneimittel, weil diese eine Zweckbestimmung als Heilmittel hätten. Erst in einer zweiten Stufe sei zu prüfen, ob das Mittel seine bestimmungsgemäße Hauptwirkung durch eine arzneimitteltypische Wirkungsweise oder auf andere Weise (z.B. physikalische Wirkung) erziele. Hierfür sei der Hersteller beweispflichtig. Sei die Wirkungsweise unklar oder umstritten, greife die Zweifelsfallregelung des § 2 Abs. 3a AMG ein, sodass es bei der Einordnung als Präsentationsarzneimittel bleibe.
42 Nichts anderes könne für die Frage der Einordnung in die Risikoklasse III gelten. Zwar handele es sich bei dem streitgegenständlichen Produkt unstreitig um ein Medizinprodukt, weil die Hauptwirkungsweise durch den physikalisch wirkenden Stoff Simeticon erzielt werde. Hiermit habe sich die Zweifelsfallregelung aber nicht erschöpft. Enthalte ein stoffliches Medizinprodukt, und damit ein Präsentationsarzneimittel, Stoffe, die arzneilich wirken könnten, sei im Zweifel davon auszugehen, dass sie zumindest eine ergänzende Wirkung auf den Körper haben könnten. Deshalb habe die Klägerin zu belegen, dass die hier verwendeten Stoffe ausnahmsweise keine ergänzende Wirkung haben können. Hierbei sei zu berücksichtigen, dass es sich bei der geforderten „ergänzenden Wirkung“ lediglich um eine pharmakologische Wirkung unterhalb der Schwelle, die für ein Funktionsarzneimittel gelte und erst recht unterhalb einer therapeutischen Wirkung, handeln müsse. Sonst wäre das streitgegenständliche Produkt bereits als Arzneimittel zu behandeln.
43 Dieser Nachweis sei der Klägerin nicht gelungen. Eine ergänzende Wirkung der eingesetzten Pflanzenstoffe sei von der Klägerin beabsichtigt, wie sich aus der Produktaufmachung und dem nicht mehr im Verkehr befindlichen Arzneimittel gleichen Namens ergebe.
44 Die Prozessbevollmächtigte der Beklagten weist ferner auf Ziff. 2.5 der Klassifizierungs-regeln gemäß Anhang IX der Richtlinie 93/42/EG hin. Darin ist bestimmt, dass die strengste Regel gilt, wenn unter Berücksichtigung der vom Hersteller angegebenen Leistungen auf ein und dasselbe Produkt mehrere Regeln anwendbar sind. Daraus sei auch für die vorliegende Abgrenzungsfrage zu schließen, dass im Zweifel die strengere Regel anwendbar sei.
45 Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte, die von der Beklagten vorgelegten Verwaltungsvorgänge (1 Ordner) und sämtliche von den Beteiligten vorgelegten Unterlagen Bezug genommen.
46 E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
47 Die Klage ist als Anfechtungsklage statthaft und auch im Übrigen zulässig. Insbesondere fehlt es nicht am erforderlichen Rechtsschutzinteresse. Zwar bringt die Klägerin das streitgegenständliche Produkt wegen des anhängigen Rechtsstreits derzeit nicht in den Verkehr. Die im Termin zur mündlichen Verhandlung anwesenden Vertreter der Klägerin haben jedoch erklärt, dass derzeit noch einige Bestände mit ausreichender Haltbarkeitsdauer gelagert seien und beabsichtigt sei, diese bei einem Erfolg des Verfahrens sofort in den Handel zu bringen. Das Inverkehrbringen des streitigen Präparats ist bei einem Erfolg der Klage und Beibehaltung der Risikoklasse I zumindest noch bis zum Inkrafttreten der neuen Medizinprodukte-Verordnung der EU im Mai 2020 rechtlich zulässig. Danach sind für stoffliche Medizinprodukte nach der neuen Klassifizierungsregel 21 nur noch die Klassen II a bis III vorgesehen. Ein berechtigtes Interesse der Klägerin an der Aufhebung des Klassifizierungsbescheides ist somit für diesen Zeitraum zu bejahen.
48 Die Klage ist auch begründet. Der Bescheid des BfArM vom 27.02.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.08.2015 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
49 Rechtsgrundlage für den angefochtenen Feststellungsbescheid des BfArM ist § 13 Abs. 3 Nr. 1 des Medizinproduktegesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 7. August 2002 (BGBl. I S. 3146), zuletzt geändert durch Artikel 7 des Gesetzes vom 18. Juli 2017 (BGBl. I S. 2757). Danach entscheidet die zuständige Bundesoberbehörde auf Antrag einer zuständigen Behörde über die Klassifizierung einzelner Medizinprodukte.
50 Die formellen Voraussetzungen dieser Norm sind erfüllt. Insbesondere liegt ein Antrag der zuständigen Behörde vor. Da die Klägerin ihren Sitz in 00000 L. hat, ist die Landesüberwachungsbehörde des Freistaates Thüringen die nach § 26 Abs. 1 und 2 MPG zuständige Behörde. Das BfArM ist für die Entscheidung über die Klassifizierung nach § 32 Abs. 1 Nr. 4 MPG zuständig.
51 Jedoch ist der Bescheid materiell rechtswidrig. Das BfArM hat das stoffliche Medizinprodukt „D. I. “ zu Unrecht in die höchste Risikoklasse III eingestuft. Gemäß § 13 Abs. 1 MPG erfolgt die Klassifizierung nach den Klassifizierungsregeln des Anhangs IX der Richtlinie 93/42/EWG. Demnach sind diese Regeln aufgrund der Verweisung des Gesetzes unmittelbar anwendbar. Die Klassifizierung ist rechtswidrig, weil sie den Regeln in Anhang IX der Richtlinie nicht entspricht.
52 Der Anhang IX unterscheidet nach Abschnitt III grundsätzlich zwischen nicht invasiven und invasiven Produkten. Hier handelt es sich unstreitig um ein nicht invasives Produkt, da die Lösung nicht dazu bestimmt ist, durch die Körperoberfläche oder über eine Körperöffnung ganz oder teilweise in den Körper einzudringen (vgl. die Definition in Ziff. 1.2). Für nicht invasive Produkte gilt gemäß Ziff. III.1.1 die Regel 1, die besagt, dass alle nicht invasiven Produkte zur Klasse I gehören, es sei denn, es findet eine der folgenden Regeln Anwendung. Dies ist nicht der Fall. Insbesondere findet die vom BfArM in Anspruch genommene Regel 13 keine Anwendung.
53 Regel 13 lautet: „Alle Produkte, zu deren Bestandteilen ein Stoff gehört, der bei gesonderter Verwendung als Arzneimittel im Sinne des Artikels 1 der Richtlinie 2001/83/EWG angesehen werden kann und der ergänzend zur Wirkung der Produkte auf den menschlichen Körper einwirken kann, werden der Klasse III zugeordnet.“
54 Zur Auslegung dieser Regel können auch die Leitlinien herangezogen werden, die die zuständige Arbeitsgruppe der EU-Kommission zur Auslegung der Klassifizierungsregeln erlassen hat („Guidelines relating to the application oft he council directive 93/42/EEC on medical devices“, MEDDEV 2.4/1 Rev. 9, June 2010)“.
55 Darin wird als allgemeine Erklärung für die Regel ausgeführt: „Diese Regel soll die Kombinationsprodukte abdecken, die einen arzneilichen Wirkstoff (medicinal substance) zum Zweck der Unterstützung der Funktion des Medizinproduktes enthalten. Jedoch soll die Regel keine Anwendung finden auf Medizinprodukte, die Substanzen enthalten, welche unter anderen Bedingungen als arzneiliche Wirkstoffe betrachtet werden können, welche aber in das Medizinprodukt eingefügt wurden, um ausschließlich eine bestimmte Eigenschaft des Produktes zu erhalten und welche nicht geeignet sind, auf den Körper zu wirken. Die Hauptfunktion des Medizinprodukts stützt sich nicht auf eine pharmakologische, metabolische oder immunologische Wirkung des Arzneistoffs. Wenn dies der Fall ist, würde es sich eher um ein Arzneimittel handeln als um ein Medizinprodukt und wäre nicht durch diese Richtlinie erfasst.“
56 Als Beispiele für die Anwendung der Regel 13 werden antibiotische Knochenzemente, Kondome mit einer Spermizidbeschichtung, heparinbeschichtete Katheter oder medikamentenbeschichtete Stents zum Einsatz in Herzkranzgefäßen genannt.
57 Hiervon ausgehend wird das streitgegenständliche Mittel nicht von der Definition der Regel 13 erfasst. Die Regel 13 stellt zwei Voraussetzungen auf, die kumulativ erfüllt sein müssen: Es muss sich um ein Kombinationsprodukt aus einem Medizinprodukt und einem Stoff handeln, der bei gesonderter Verwendung als Arzneimittel im Sinne des Art. 1 der Richtlinie 2001/83/EG anzusehen wäre. Der Stoff kann ergänzend zur Wirkung des Produkts auf den menschlichen Körper einwirken. Die Regel kommt – entgegen der Annahme der Beklagten – aber nicht zur Anwendung, wenn der Hersteller das Medizinprodukt in einer Aufmachung präsentiert, die beim Anwender den Eindruck einer ergänzenden Wirkung der beigefügten Pflanzenstoffe hervorruft. Maßgeblich ist im Rahmen der Regel allein die objektive Wirkmöglichkeit, nicht die Präsentation.
58 Die erste Voraussetzung ist hier erfüllt. Bei gesonderter Verwendung, also bei einer Verwendung unabhängig von dem Medizinprodukt, könnten die eingesetzten Aromastoffe, zumindest die darin enthaltenen ätherischen Pflanzenöle, als Funktionsarzneimittel im Sinne des Art. 1 Nr. 2 b der Richtlinie 2001/83/EG angesehen werden. Denn es handelt sich um Stoffe, die einem Menschen verabreicht werden können, um die physiologischen Funktionen durch eine pharmakologische Wirkung wiederherzustellen, zu korrigieren oder zu beeinflussen. Dies ist der Fall, wenn ätherische Öle aus Kamillenblüten, Kümmelsamen oder Pfefferminzblättern entweder isoliert oder in Kombination miteinander oder mit anderen Arzneistoffen in einer wirksamen Dosierung in einem Präparat mit einer medizinischen Zweckbestimmung, zum Beispiel zur Linderung von Verdauungsbeschwerden, eingesetzt werden. Die Eignung dieser Pflanzenstoffe zur Heilung und Linderung von Krankheiten ergibt sich dabei aus den entsprechenden Pflanzenmonographien des HMPC, die im Verfahren von der Beklagten vorgelegt worden sind (vgl. Beiakte 4).
59 Die zweite Voraussetzung liegt bei dem streitgegenständlichen Produkt jedoch nicht vor. Die hier eingesetzten Aromastoffe sind nicht geeignet, ergänzend zur Wirkung des Simeticon, auf den menschlichen Körper einzuwirken.
60 Welche Anforderungen hierbei an eine „ergänzende Wirkung auf den menschlichen Körper“‘ zu stellen sind, ergibt sich aus dem Wortlaut der Vorschrift, ihrer Zweckbestimmung und dem Regelungszusammenhang. Hierbei ist – im Gegensatz zur ersten Voraussetzung der Regel – nicht auf die abstrakte Verwendungsmöglichkeit der beigefügten arzneilichen Substanz abzustellen, sondern auf die Wirkungen, die von dem streitgegenständlichen Produkt in seiner konkreten Zusammensetzung und bestimmungsgemäßen Anwendung erzielt werden können. Andernfalls hätte die zweite Voraussetzung der Regel keine eigenständige Bedeutung neben der ersten Voraussetzung.
61 Eine ergänzende Wirkung der verwendeten Zusatzstoffe auf den menschlichen Körper im Sinne der Regel 13 setzt nicht die Feststellung einer Funktionsarzneimitteleigenschaft des betreffenden Stoffes im Sinne des Art. 1 Nr. 2 b der Richtlinie 2001/83/EG und des § 2 Abs. 1 Nr. 2 a) AMG, also die Feststellung einer pharmakologischen Wirkung, voraus. Dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut der Vorschrift, insbesondere aus der Verwendung des Wortes „kann“. In der Vorschrift geht es nicht um eine arzneiliche Substanz, die ergänzend zur Wirkung des Produktes auf den menschlichen Körper einwirkt, sondern um einen Stoff, der ergänzend zur Wirkung des Produktes auf den menschlichen Körper einwirken „kann“.
62 Damit unterscheidet sich das zweite Merkmal der Regel 13 von der Definition des Funktionsarzneimittels in Art. 1 Nr. 2b der Richtlinie 2001/83/EG. Danach sind Arzneimittel Stoffe, die einem Menschen verabreicht werden können, um die physiologischen Funktionen durch eine pharmakologische, immunologische oder metabolische Wirkung wiederherzustellen, zu korrigieren oder zu beeinflussen. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs sind diese Voraussetzungen nur dann erfüllt, wenn das Produkt aufgrund seiner Zusammensetzung – einschließlich der Dosierung seiner Wirkstoffe – und bei bestimmungsgemäßer Anwendung tatsächlich dazu geeignet ist, die physiologischen Funktionen in nennenswerter Weise durch eine pharmakologische, immunologische oder metabolische Wirkung wiederherzustellen, zu korrigieren oder zu beeinflussen; diese Eigenschaft muss wissenschaftlich festgestellt sein.
63 vgl. EuGH, Urteile vom 15.11.2007 – C-319/05 – juris und vom 15.01.2009 – C 140/07 – juris.
64 Die Verwendung der Formulierung „auf den menschlichen Körper einwirken kann“ verdeutlicht, dass im Rahmen der Klassifizierung von Medizinprodukten eine solche Feststellung der Wirkung gerade nicht erforderlich ist. Jedoch genügt es auch nicht für die Anwendung der Regel 13, dass eine Wirkung der beigefügten arzneilichen Substanz nicht ausgeschlossen werden kann bzw. schon eine entfernte theoretische Möglichkeit einer Wirkung für eine Einstufung eines Medizinproduktes mit beigefügten Pflanzenstoffen in die Risikoklasse III genügt.
65 Diese Auffassung der Beklagten ist mit dem Wortlaut der Norm, ihrer Zweckbestimmung und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht vereinbar. Sie lässt sich auch nicht mit der Zweifelsfallregelung in § 2 Abs. 3a AMG begründen.
66 Mit einer ergänzenden Wirkung auf den menschlichen Körper kann nur eine Wirkung gemeint sein, die die physiologischen Funktionen des Körpers durch eine pharmakologische, immunologische oder metabolische Wirkung wiederherstellen, korrigieren oder beeinflussen „kann“ und damit eine potentielle arzneimitteltypische Wirkung im Sinne des § 2 Abs. 2 a AMG darstellt. Geht die mögliche Wirkung nicht über die Beeinflussung des menschlichen Körpers hinaus, die auch mit einem gewöhnlichen Lebensmittel erzielt werden kann, wäre die Anwendung der höchsten Risikostufe für Medizinprodukte, nämlich der Risikostufe III, zur Risikoabwehr nicht erforderlich und damit nicht verhältnismäßig. Denn die Einordnung in die Risikostufe III, die mit den strengsten Prüfungsanforderungen im Rahmen des Konformitätsbewertungsverfahrens für Medizinprodukte verbunden ist, ist nur dann gerechtfertigt, wenn die eingesetzten arzneilichen Substanzen möglicherweise zu pharmakologischen Wirkungen führen und damit eine Prüfung dieser Wirkungen und der damit verbundenen Nebenwirkungen erforderlich ist.
67 Eine Prüfung eines Medizinprodukts im strengsten vorgesehenen Verfahren ist jedoch nur geboten, wenn die Möglichkeit einer Wirkung auf den Körper nicht nur theoretisch aufgrund der Eigenschaften des Stoffes denkbar erscheint, sondern wenn im Einzelfall tatsächlich eine reale Wahrscheinlichkeit einer derartigen Wirkung besteht. Andernfalls würde der freie Warenverkehr durch Anforderungen an die Konformitätsbewertung behindert, die völlig außer Verhältnis zum angestrebten Ziel des Medizinprodukterechts, nämlich dem Gesundheitsschutz der Bevölkerung bestehen,
68 vgl. EuGH, Urteil vom 15.01.2009 – C-140/07 – juris Rn. 27: für das Arzneimittelrecht; a.A. AGMP-Projektgruppe „Abgrenzungs- und Klassifizierungsfragen“ der obersten Landesgesundheitsbehörden, Arbeitshilfe: Einstufung und Klassifizierung von Medizinprodukten, Kapitel XII, 1. b), S. 29: die theoretische Möglichkeit der Einwirkung genügt.
69 Die Klassifizierungsregeln dienen nämlich allein dem Gesundheitsschutz der Patienten. Je höher die Risikostufe, desto höher ist der Gefährdungsgrad für den Patienten und desto größere Anforderungen werden an das Verfahren zur Bewertung der Konformität nach § 7 der Verordnung über Medizinprodukte – MPV – vom 20.12.2001 (BGBl. I S. 3854) zuletzt geändert durch Art. 3 der Verordnung vom 27.09.2016 (BGBl. I S. 2203) gestellt,
70 vgl. auch Erwägungsgrund 14 der Richtlinie 93/42/EWG vom 14.06.1993 (ABl. L 169 vom 12.07.1993, S. 1) zuletzt geändert durch die Richtlinie 2007/47/EG vom 05.09.2007 (ABl. L vom 21.09.2007, S. 21): „Die Klassifizierungsregeln basieren auf der Verletzbarkeit des menschlichen Körpers und berücksichtigen die potentiellen Risiken im Zusammenhang mit der technischen Auslegung der Produkte und mit ihrer Herstellung. … Für die Produkte der Klassen IIb und III, die ein hohes Gefahrenpotential darstellen, ist eine Kontrolle durch eine benannte Stelle in bezug auf die Auslegung der Produkte sowie ihre Herstellung erforderlich. Die Klasse III ist den kritischsten Produkten vorbehalten, deren Inverkehrbringen eine ausdrückliche vorherige Zulassung im Hinblick auf die Konformität erfordert.“
71 Auch in der Begründung des EU-Gesetzgebers wird also auf die „potentiellen“, also möglichen Risiken des Produkts abgestellt und die Risikostufe III ist den „kritischsten Produkten“ vorbehalten. Bei der Prüfung der möglichen Wirkung des arzneilichen Bestandteils auf den Körper kann daher die Dosierung des Stoffes nicht unberücksichtigt bleiben. Stoffe, die in niedriger, nicht pharmakologisch wirkender Dosierung, zu dem Zweck eingesetzt werden, andere Eigenschaften des Medizinprodukts zu erzeugen oder zu sichern, wie zum Beispiel Duftstoffe, sind nicht dazu in der Lage, eine Wirkung auf den Körper zu erzeugen und fallen daher nicht unter die Regel 13,
72 vgl. insoweit AGMP-Projektgruppe, Arbeitshilfe: Einstufung und Klassifizierung von Medizinprodukten, Kapitel XII, 1. b), S. 29.
73 Dasselbe muss auch für pflanzliche Stoffe gelten, die in höherer Dosierung physiologisch wirksame ätherische Öle enthalten, im Produkt aber lediglich in geringer Dosierung zum Zwecke der Geschmacksverbesserung oder wie hier zur Erzeugung eines arzneimittelähnlichen Geschmacks eingesetzt werden. Gerade bei den hier eingesetzten pflanzlichen Stoffen, die – abhängig von der Dosierung – gleichermaßen als Lebensmittel oder als Arzneimittel Anwendung finden können, muss die Dosierung ausschlaggebend für die Frage sein, ob eine arzneimitteltypische Wirkung auf die physiologischen Funktionen des Körpers möglich ist, die zur Einstufung in die Risikostufe III führt.
74 Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der in § 2 Abs. 3a AMG enthaltenen sog. „Zweifelsfallregelung“, die zur Abgrenzung von Arzneimitteln von anderen Produktkategorien dient. Diese bestimmt, dass Erzeugnisse, die unter die Definition eines Arzneimittels nach § 2 Abs. 1 AMG fallen und gleichzeitig unter die Begriffsbestimmung einer anderen Produktkategorie (z.B. Lebensmittel, kosmetische Mittel, Medizinprodukte) fallen können, als Arzneimittel gelten. Da das vorliegende Produkt wegen seiner bestimmungsgemäßen physikalischen Hauptwirkung ein Medizinprodukt ist, stellt sich die Abgrenzungsfrage nicht.
75 Eine analoge Anwendung dieser Bestimmung bei der Entscheidung über die Klassifizierung von Medizinprodukten ist schon deshalb nicht möglich, weil insofern keine Regelungslücke besteht. Die Beklagte hat selbst auf die Regel 2.5 hingewiesen, wonach bei Anwendbarkeit mehrerer Regeln die strengste Regel anzuwenden ist. Jedoch greift die Regel 2.5 hier ebenfalls nicht ein, weil sie die positive Feststellung voraussetzt, dass mehrere Regeln gleichzeitig anwendbar sind.
76 Hier geht es indessen allein um die Frage, ob die Regel 13 anwendbar ist und welche Anforderungen an die Feststellung einer möglichen ergänzenden Wirkung eines beigefügten Arzneistoffs im Rahmen der Regel 13 zu stellen sind, ob insbesondere eine potentielle ergänzende Wirkung schon dann vorliegt, wenn sie wegen der abstrakten Eigenschaften des Stoffs nicht ausgeschlossen werden kann.
77 Für eine Auslegung, dass eine mögliche Wirkung auf den menschlichen Körper im Zweifel vorliegt, wenn der Antragsteller nicht das Gegenteil durch die Vorlage entsprechender Untersuchungen beweist, gibt die Regel 13 aber keine Anhaltspunkte. Vielmehr ist auf der Grundlage der vorliegenden wissenschaftlichen Erkenntnisse zu entscheiden, ob eine pharmakologische Wirkung möglich erscheint.
78 Die Prüfung, ob ein in Arzneimitteln verwendeter Stoff in einer geringeren Dosierung auf den menschlichen Körper einwirken kann, also eine pharmakologische Wirkung entfalten kann, ist im Einzelfall oft schwierig, da es zum Wirkungsspektrum eines Stoffes unterhalb einer therapeutischen Dosis häufig keine wissenschaftlichen Feststellungen gibt. Derartige wissenschaftliche Untersuchungen wurden auch im vorliegenden Fall weder von der Klägerin noch von der Beklagten vorgelegt oder zitiert. Es ist jedoch davon auszugehen, dass die pharmakologische Wirkung auf den Körper nicht abrupt mit der Dosis einsetzt, die für die therapeutischen Wirksamkeit in einem bestimmten Anwendungsgebiet erforderlich ist, sondern bereits unterhalb dieser Grenze beginnt und mit zunehmender Dosierung ansteigt,
79 vgl. VG Köln, Urteil vom 28.04.2015 – 7 K 395/13 – .
80 Die Festlegung einer generellen Untergrenze, bei der eine wesentliche Beeinflussung des Stoffwechsels einsetzt und die für alle Stoffe gültig ist, dürfte hierbei nicht möglich sein. Die Kammer ist jedoch der Auffassung, dass bei der Abgrenzung von Stoffen, die auch im Lebensmittelbereich Anwendung finden, eine mögliche pharmakologische Wirkung unterhalb einer Grenze von 10 % der therapeutischen Dosis nicht mehr anzunehmen ist. Da die Klägerin in Übereinstimmung mit der Beklagten zuletzt ermittelt hat, dass in einer Einzeldosis des streitgegenständlichen Mittels lediglich 3,58 % der therapeutisch wirksamen Menge an Kümmelöl und 3,6 % der therapeutisch wirksamen Dosis von Pfefferminzöl enthalten sind, hält die Kammer die Annahme einer wesentlichen Beeinflussung des Stoffwechsels durch diese Mengen für fernliegend.
81 Aber auch im Hinblick auf das Kamillenöl, das in einer Menge von 14,8 % der therapeutischen Dosierung in einer Einzeldosis des Präparates enthalten ist, geht die Kammer davon aus, dass eine mögliche Wirkung auf den menschlichen Organismus, die zu einer nennenswerten Beeinflussung der physiologischen Funktionen führt, nicht festgestellt werden kann.
82 Dafür spricht insbesondere die Stoffliste des Bundes und der Bundesländer in der Kategorie „Pflanzen und Pflanzenteile“, die eine Entscheidungshilfe für Behörden und Hersteller darstellen soll. Diese geht davon aus, dass die Verwendung von Pflanzenstoffen wie Kamillenblüten, die sowohl eine Verwendung als Lebensmittel als auch als Arzneimittel haben, in Lebensmitteln schon dann zulässig ist, wenn die Stoffe unterhalb einer pharmakologischen Dosierung bleiben. Diese wird auf der Grundlage aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse über die Dosierung als Arzneistoff, z.B. durch die Dosierungsangaben in Arzneimittelmonographien, festgelegt. Da die hier eingesetzte Menge Kamillenöl mit einer Menge von 14,8 % der therapeutischen Dosis weit unter dieser Grenze bleibt, wäre eine Verwendung als Lebensmittel zulässig und damit die Möglichkeit einer Wirkung auf den menschlichen Körper in einer arzneimitteltypischen Art nicht gegeben.
83 Risiken oder Nebenwirkungen, die mit der Anwendung von Kamillenöl mit dieser Menge möglicherweise verbunden sind und für eine Einordnung in die Risikostufe III sprechen könnten, hat die Beklage nicht dargelegt. Auch in der oben genannten Stoffliste werden für Kamillenblüten keine Risiken benannt. In der aktuellen HMPC-Monographie vom 07.07.2015 wird der Stoff Kamillenöl als untoxisch beschrieben. Die in den Abschnitten Kontraindikationen und Nebenwirkungen allein aufgeführten Überempfindlichkeitsreaktionen sind praktisch bei allen Pflanzenstoffen möglich, auch wenn diese als Lebensmittel eingesetzt werden.
84 Die Annahme, dass ein Medizinprodukt, dem eine geringe Menge Kamillenöl beigefügt ist, die weit unterhalb therapeutischer Dosierungen liegt, zu den kritischsten Medizinprodukten der Klasse III gehört, die dem strengsten Prüfungsverfahren unterliegen, erscheint der Kammer auch im Hinblick auf die als Beispiele für Kombinationsprodukte genannten Erzeugnisse (antibiotikaversetzte Knochenzemente, etc.) nicht als sachgerecht. Eine Vergleichbarkeit dieser Produkte im Hinblick auf die damit verbundenen Gesundheitsrisiken ist nicht erkennbar.
85 Der Klage auf Aufhebung des Klassifizierungsbescheides war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben.
86 Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. § 709 ZPO.
87 Rechtsmittelbelehrung
88 Gegen dieses Urteil steht den Beteiligten die Berufung an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen zu, wenn sie von diesem zugelassen wird. Die Berufung ist nur zuzulassen, wenn
89
90 1. ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils bestehen,
91 2. die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten aufweist,
92 3. die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
93 4. das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
94 5. ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.
95 Die Zulassung der Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, schriftlich zu beantragen. Der Antrag auf Zulassung der Berufung muss das angefochtene Urteil bezeichnen.
96 Statt in Schriftform kann die Einlegung des Antrags auf Zulassung der Berufung auch als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a der Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) erfolgen.
97 Die Gründe, aus denen die Berufung zugelassen werden soll, sind innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils darzulegen. Die Begründung ist schriftlich oder als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der ERVV bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster, einzureichen, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist.
98 Vor dem Oberverwaltungsgericht und bei Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Oberverwaltungsgericht eingeleitet wird, muss sich jeder Beteiligte durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen. Als Prozessbevollmächtigte sind Rechtsanwälte oder Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, die die Befähigung zum Richteramt besitzen, für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts auch eigene Beschäftigte oder Beschäftigte anderer Behörden oder juristischer Personen des öffentlichen Rechts mit Befähigung zum Richteramt zugelassen. Darüber hinaus sind die in § 67 Abs. 4 der Verwaltungsgerichtsordnung im Übrigen bezeichneten ihnen kraft Gesetzes gleichgestellten Personen zugelassen.
99 Die Antragsschrift sollte zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung eines elektronischen Dokuments bedarf es keiner Abschriften.
100 Beschluss
101 Der Wert des Streitgegenstandes wird auf
102 50.000,00 €
103 festgesetzt.
104 Gründe
105 Mit Rücksicht auf die Bedeutung der Sache für die Klägerin ist es angemessen, den Streitwert auf den festgesetzten Betrag zu bestimmen (§ 52 Abs. 1 GKG). Im Hinblick auf die Bedeutung der Klassifizierungsfrage für den Marktzugang eines Medizinprodukts erscheint es der Kammer angemessen, den Streitwert mit dem Streitwert für die Zulassung eines Arzneimittels gleichzusetzen. Dieser beträgt in Anlehnung an den geschätzten Jahresgewinn pauschal 50.000,00 Euro, sofern sich keine Anhaltspunkte für eine andere Streitwerbemessung ergeben.
106 Rechtsmittelbelehrung
107 Gegen diesen Beschluss kann schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle, Beschwerde bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln eingelegt werden.
108 Statt in Schriftform kann die Einlegung der Beschwerde auch als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a der Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) erfolgen.
109 Die Beschwerde ist innerhalb von sechs Monaten, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat, einzulegen. Ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, so kann sie noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.
110 Die Beschwerde ist nur zulässig, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200 Euro übersteigt.
111 Die Beschwerdeschrift sollte zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung eines elektronischen Dokuments bedarf es keiner Abschriften.