wir leben in einer Zeit, in der wir tagtäglich mit neuen Meldungen konfrontiert sind, die unser Leben bis in die empfindlichsten Bereiche berühren. Die Corona-Krise, die trotz derzeitiger Entspannung der Maßnahmen in ihren Auswirkungen immer noch deutlich spürbar ist, hat nicht nur zu einer Verschiebung von Produktverfügbarkeiten in Lieferketten geführt, sondern auch viele Menschen dazu veranlasst, umzudenken und ihrem Leben eine andere Richtung zu geben, etwa auch im Hinblick auf einen Arbeitsplatzwechsel in eine andere Branche. Dies alles führt dazu, dass Produkte teurer werden und verlängerte Lieferzeiten die Wertschöpfungskette verlangsamen. Dazu kommen Energiekrise, Inflation und der Blick in eine politisch sehr unsichere, instabile Zukunft. „Aber die Unternehmen werden das schon stemmen“, scheint die Politik zu meinen.
Allerdings stehen die regulatorischen Räder nicht still: die Umsetzung der neuen MDR war und ist immer noch für viele Unternehmen der Medizinproduktebranche eine echte Herausforderung, und vor dem Hintergrund der derzeitigen übergreifenden Krisensituation mögen die Unternehmen im Hinblick auf Innovationen nun die Richtung wechseln: weg von Europa, hin in die USA.
Der BVMed-Vorstandsvorsitzende Dr. Meinhard Lugan hat es in der Auftaktrunde der MDR-Branchenkonferenz des BVMed am 18.05.2022 in Berlin auf den Punkt gebracht: Das [europäische Medizinprodukte-]System sei so nicht wettbewerbsfähig. Und diese Ansicht bestätigt eine aktuelle Studie der Boston Consulting Group, nach der 89% der Unternehmen die FDA-Zulassung gegenüber dem europäischen Markt präferieren. Es ist Ihnen nicht zu verübeln. Warum? Die MDR ist schlichtweg ein Innovationskiller, denn sie ist an Bürokratie und Prozessen statt am Risiko orientiert. Bewährte Bestandsprodukte genauso wie neue Produkte zu behandeln, sei „unsinnig“, da stimme ich Herrn Lugan zu. Wie Hohn klingt für mich da die Einschätzung von Ortwin Schulte, Leiter des Referats Medizinproduktesicherheit im Bundesgesundheitsministerium (BMG): gesetzliche Änderungen, die einen Trilog von Kommission, Parlament und Rat erfordern, seien „derzeit sehr schwierig“. Und warum?
Ist es nicht Aufgabe der Politik, den Rahmen für eine florierende Wirtschaft zu setzen, um der Gesellschaft ein sozial geprägtes Wohlergehen zu sichern? Bislang habe ich unsere Grundordnung genau so verstanden. Also was genau heißt „schwierig“? Die Politik sollte können, wenn sie denn wollte.
Den Begriff „schwierig“ lasse ich gelten, wenn wir in das Detail der Umsetzung der MDR schauen: immer noch gibt es eine Vielzahl von unklaren, arbeitserschwerenden Regelungen, die wir hier, im Medizinprodukte Journal regelmäßig darstellen, mit dem Ziel, Schwachpunkte aufzuzeigen, Diskussion anzuregen und letztlich Klarheit zu schaffen. Denn Unklares ist nicht umsetzbar, es verbrennt unnötige Ressourcen!
Insbesondere brauchen wir einen gesunden Pragmatismus in der Arbeit der benannten Stellen: ohne eine Zusammenarbeit von Unternehmen und Behörden zum Wohle der Patienten wird sich der Markt zum Nachteil der Patienten verändern. Wenn es die Politik nicht schafft, muss es die Arbeitsebene richten, eine andere Chance sehe ich derzeit nicht. Gut gefallen hat mir daher der in der MDR-Branchenkonferenz geäußerte Vergleich von Prof. Dr. Matthias Gorenflo, Ärztlicher Direktor am Universitätsklinikum Heidelberg: Es sei wie beim Wandern, da habe das Gelände Recht und nicht die Karte.
Stimmt, meine ich; und hoffe, dass sich alle Akteure gute Wanderstiefel anziehen, denn der Weg wird steinig, steil und lang. Aber er lohnt sich. Bleiben Sie gut gerüstet und gesund!
Ihre Annika S. Bien